Im Gespräch
Anwendung verlangt
H.C.-Artmann-Preis an Gerhard Ruiss
Laudatio von Klaus Zeyringer
Ein erstes Gedicht endet so:
ein österreich
das nach wiederbewaffnung schreit
ist mit dem quakfrosch zu vergleichen
der mit bruchband und dextropur versehen
einen antiken dragonersäbel erheben wollte...
In einem zweiten Gedicht steht die Strophe:
Da kommen geschlichen,
Vermagert, verblichen,
Aus den Fabriken der Reichen,
Aus den Gehöften ihrer Treiber,
Die Männer, die Weiber,
Ein langer, langer Zug von Leichen.
In einem dritten Gedicht heißt es:
Auf der Gassen waltet Gleichheit
Zwischen Armut, zwischen Reichheit,
Arme betteln, Reiche prassen
Auf der Gassen, auf der Gassen.
Ein viertes Gedicht trägt den Titel "rationalisierung", es lautet:
wir müssen schneller sein
als die maschinen
die wir bedienen
die maschinen müssen schneller sein
als wir mit ihnen
Und ein fünftes Gedicht heißt "berufsbedingt", es geht so:
der kanzler
kommt als erlöser
der installateur
kommt als installateur
der kanzler
geht als kanzler
der installateur
geht als erlöser
Mein erstes Beispiel ist eine Strophe des Manifests von H.C. Artmann, der es mit dem 17. Mai 1955 datierte und mit dem Beginn versah: "wir protestieren mit allem nachdruck / gegen das makabre kasperltheater" - es geht um die Einführung des österreichischen Bundesheeres. Artmann hat nicht zufällig die lyrische Form gewählt und damit eines der frühen direkt politischen Gedichte der 2. Republik geschrieben. Bekanntlich baute er seine beeindruckende Sprachkunst auf viele Traditionen, mit denen er sich auseinandersetzte, die er auseinander setzte. Das Manifest gegen die Wiederbewaffnung ruft Vorgänger wach, die eine wirkmächtige Fraktion von Literaturhistorikern zu Unrecht ins Bett des Vergessens schlafengelegt hat.

Mein zweites Beispiel kommt aus der Feder eines "Talents, wie seit Schiller keines aufgestanden ist" - so Friedrich Engels 1839 über Karl Beck, der dann 1846 seine Lieder vom armen Mann veröffentlichte, darin das großartige Gedicht Die Not der Fabrikarbeiter, aus dem die zitierte Strophe stammt.

Mein drittes Beispiel war ein Gassenhauer des Vormärz. Das Gassenlied von Ferdinand Sauter fand damals eine ungemein starke Verbreitung und galt vielen als "wohl furchtbarste Satire auf das reaktionäre Österreich", wie Alfred Meißner 1841 an Moritz Hartmann schrieb. Beide waren Lyriker, die ihre Poesie auch politisch gestalteten.

Mein viertes wie auch mein fünftes Beispiel stammt aus dem umfangreichen Werk von Gerhard Ruiss. Seine Lyrik verfügt über eine Bandbreite, die durchaus mit jener von H.C. Artmann zu vergleichen ist. Die Ruiss'sche Traditionslinie reicht bis Oswald von Wolkenstein zurück, dessen gesamtes Oeuvre er ins Heutige herübergedichtet hat;
er lotet Töne und Sprachbilder des Dialekts aus, "wos an weana olas en s gmiad gehd" lässt sich auch bei ihm erlesen;
er kennt Verknappungen der sogenannten "Konkreten Poesie";
er hat sogar "Schöne Gedichte", betitelt Paradiese, vorgelegt. Eines davon trägt den wenig Schönes erahnen lassenden Titel als die cholera zum letzten mal wo war und bringt höchst eindringliche Bilder:
irritierend wär / vielleicht sogar ein geisterheer / in der roßau ein gewieher / doch ziehen schnarrend über den köpfen / vorüber den wind bis zum schwanz schwarz / gesträubt im gefieder / rabenlieder.
Diese Verse vermitteln, im Vergleich zu den zuvor zitierten, eine Idee von der Vielfalt Ruiss'scher Lyrik; einer landläufigen Vorstellung von Eden folgen sie nicht.

"Umsonst will uns die Poesie bereden, / Daß diese arme Erde sei ein Eden", schrieb Alfred Meißner 1846. Die Lyrik von Meißner, Beck, Artmann, Ruiss will dies gewiss nicht. Sie ist pointiert und mitreißend rhythmisiert. Manche Gedichte von Gerhard Ruiss können ohne weiteres in einem kritischen Volksvermögen Aufnahme finden, einige wurden vertont. Sie schlagen keinen Metaphernschaum, sondern kommen aus der Dusche politisch-sozialer und zwischenmenschlicher Realitäten, deren mediale Elementarteilchen der Dichter aufklatschen lässt. Wohl heißt ein Band Sänger im Bad, aber es geht nicht um ein Deklamieren im Privatgeplansche, die Texte eignen sich vielmehr durchaus für größere Auftritte.

"Moment", sagte ein Polizist auf dem Heldenplatz, "ich möchte die Lesung vom Herrn Ruiss nicht stören." Und drehte sich von der Absperrung weg und blickte gespannt zur Bühne, dem Sprachrohr der Demo. Gegen alle Wahrscheinlichkeit ist diese Episode tatsächlich geschehen. Dem Band Indikationen hat Gerhard Ruiss immerhin mitgegeben, dass seine Gedichte "Anwendung verlangen". Und hier findet sich in aller Knappheit die intime Sozialstudie midanaunda oid wuan:
eam / is da schme ausgaungan / ia / di luft / redn dans / olle zwa nix mea.
Diesmal ist die Anwendung nicht verlangt.

Ein lakonischer Ton vermag Ungereimtheiten im Großen und im Kleinen auf den Punkt zu bringen. Kollektive Inszenierungen und Machtverhältnisse sind in bündige Verse gepresst, die ins Ohr gehen - mit anhaltend subversivem Oberton, auch ironisch angekratzt. In Single Swingers, dem zweiten von Gerhard Ruiss publizierten Band, steht 1987 das Gedicht revoluzion:
hosd / den frechn untaton / in mein / jawoi / gheat?
Die Kürze gedeiht bis zur Extremverknappung im Lautgedicht, einer Vokalaustreibung wie in Ernst Jandls schtzngrmm. Bei Ruiss heißt es unter dem Titel spsm spß hm:
das ist sparsam / cht sprsm / sprsm / spß hm.
Nach der Sparsam-Ankündigung des ersten Verses folgt die verlangte Anwendung auf den Fuß.

Nicht verknappt sind allerdings die Lebensbereiche, die diese Lyrik thematisch erfasst, sodass Aufrisse heutiger Befindlichkeiten erstehen, Einblicke in Beziehungskisten und Liebeslisten, auf privatem und auf politischem Terrain. Die landauf, landab dauernd zu vernehmenden Formeln kontert Gerhard Ruiss mit seinen Formen, gegen die "geltende Unschuldsvermutung" stellt er sein Gedicht bawag buwog hypo & co.

Kanzlergedichte heißt der 2006 veröffentlichte Band, die Kanzlernachfolgegedichte kamen 2017 heraus. Die Anregungen boten die "handelnden Personen", anfangs aufgelistet, von Schüssel bis Trump, von Kern bis Putin, von größeren und kleineren Lichtern. Sie alle sind redende Personen, Ruiss nimmt sie bei ihren Reden und Wendungen. Im Gegensatz zur dummen Phrase, man müsse sie an ihren Handlungen messen, weiß er: Worte führen zu Taten, Worte sind Taten. "Sätze, deren Wahnwitz unverlierbar dem Ohr eingeschrieben ist, wachsen zur Lebensmusik", schrieb Karl Kraus. Und es beschleicht einen der Eindruck, dass erneut "Operettenfiguren die Tragödie der Menschheit spielen".
Kurz: Gerhard Ruiss versteht eine Wirklichkeit als berichtbar, bedichtbar, verdichtbar. Er reduziert zur Kenntlichkeit und erweitert zum Erkenntnisvergnügen.

Gebrauchsform

Die Poesie sollte - auch - eine Gebrauchsform sein, nicht nur Salonwiese. Und die faszinierend vielfältige Sprachkunst von H.C. Artmann ist gewiss kein Beleg dafür, dass die "Wiener Gruppe" - die es im engen Sinn nicht gegeben hat - vorrangig in die Form zu drängen sei, wie dies mitunter im Tabernakel einer Wiener Germanistik blinkte. Als zirkelschlüssige Ästhetik der Selbstverständlichkeit findet eine vorgebliche Herrschaft der Form über den Sinn nach wie vor kanonmächtigen Einsatz.

Für mich steht es freilich außer Frage, dass der H.C.-Artmann-Preis wie sein Namensgeber die große Bandbreite lyrischen Schaffens in Betracht zieht.

Wenn die Lyrik das Soziale außer Acht lässt, läuft sie Gefahr, ein gehobenes Sprachbastelspiel zu betreiben. Es mag zwar erhaben hintergründig aussehen, verweist jedoch eine inhaltliche Komponente auf den vermeintlich flachen Boden des Gesellschaftlichen. Nicht selten ist damit eine - unausgesprochene, weil selbstreferentielle - Kanonstrategie verbunden, die zur Plausibilität der gegenwärtigen Geltung auch rückwirkend in die Vergangenheit interpretiert.

Literaturmuseum ohne politische Dichtung

Dies ist vermutlich ein Grund, dass nicht nur der Erste Österreichische Schriftstellerkongress - den Gerhard Ruiss 1981 federführend mitorganisierte und bei dem Bundeskanzler Bruno Kreisky den achthundert Tagenden im Wiener Rathaus zurief "Organisieren Sie sich!" -, dass dieser Erste Österreichische Schriftstellerkongress im Österreichischen Literaturmuseum nicht vorkommt. Auch die hochinteressante politische Dichtung des Vormärz existiert dort einfach nicht. Kein Alfred Meißner, kein Moritz Hartmann, kein Ferdinand Sauter, kein Karl Beck, nicht einmal ein Wort über die politische Dimension der Lyrik von Nikolaus Lenau.

Das Soziale ist nicht abstrakt.

Den relativistischen Wahrheitsbegriff kann man nicht komplett von den gesellschaftspolitischen Folgen ablösen. Stellt man die Form haushoch über den Inhalt, landet man im Abstrakten. Die Literatur sollte Sprachkunst sein und zugleich gesellschaftlich relevant. Zugespitzt: "Anwendung verlangt!"

Gratulieren wir der Gemeinde Wien zu ihrem H.C.-Artmann-Preisträger Gerhard Ruiss.