Im Gespräch
100 x Österreich
18.10.2018 / Von Klaus Zeyringer
Lydia Mischkulnig, Anton Pelinka und Heinrich Steinfest - 100 Jahre Republik, das "Haus der Geschichte Österreich", dazu ein Essayband

Ob ein Land eine Erinnerung brauche? Die Frage ist leicht zu beantworten, denn unweigerlich gibt es eine Erinnerung. Ob aber ein Staat ein "Haus der Geschichte" brauche, darüber und insbesondere über dessen mögliche Gestaltung schieden sich in Österreich mehr als zwei Jahrzehnte lang die Geister. Nun gibt es eines, rechtzeitig zum 100. Jahrestag der Republikgründung; es ist ein Provisorium, das am 10. November in der Hofburg eröffnet wird. Kein Provisorium ist das Buch, das in diesem Rahmen herauskam: 100 x Österreich versammelt neue Essays aus Literatur und Wissenschaft, aus den Federn höchst prominenter Beiträgerinnen und Beiträger. Drei von ihnen sitzen auf dem Transflair-Podium.

Der Band bringt im Zusammenspiel verschiedener Schreibhaltungen ein aussagekräftiges Panorama, eine aktuelle Bestandsaufnahme mit historischen Gründen und Hintergründen. Pointiert und fundiert führen die 100 Stichwörter und lustvoll lesbaren Essays von A wie "Adele" über "Land der Berge", "Neujahrskonzert", "Ortstafeln", "Proporz", "Schnitzel"... bis Z wie "Zukunftsangst", von Martin Amanshauser bis John Wray, von Aleida Assmann bis Klaus Zeyringer. Die Beiträge stammen von so renommierten Persönlichkeiten wie Daniel Kehlmann und Josef Haslinger, Maja Haderlap und Evelyn Schlag, Oliver Rathkolb und Heidemarie Uhl.

Bei Transflair, der 65. Folge der Serie, gibt es zur Einstimmung ein fiktives "Platzkonzert" mit dem Satz "Österreich, das Bernhardsche Rindssuppenland mit Rothschen Marillenknödeln als Beilage". Nach diesem Tusch folgt die Anspielung von harmonischen Tönen mit der "Konkordanzdemokratie", die als Grundgedanke "für ein Lernen an der Geschichte dienen könnte"; und zum Schluss das Speisenspezifische beim "Würstelstand": "Von oben betrachtet war dieser Würstelstand die Welt". In der Reihenfolge: Lydia Mischkulnig (Platzkonzert), Anton Pelinka (Konkordanzdemokratie), Heinrich Steinfest (Würstelstand).

Die Hauptthemen von Lydia Mischkulnigs Werk stimmt der frühe Roman Hollywood im Winter an, der 1996 erschienen und nun als Taschenbuch erhältlich ist: Leidenschaft und Verrat, Eros und Thanatos - und historische Hintergründe. Es ist ein eindringliches Psychogramm einer Gesellschafts- und Familienkonstellation mit Festspielkulisse, also recht österreichisch. Das hält Mischkulnig in ihren jüngsten Werken nicht anders. Vom ersten Satz an gestaltet sie ihren Roman Vom Gebrauch der Wünsche (2014) vielschichtig, tiefgründig und präzise: "Die Erinnerung an böse Menschen kann zauberhaft sein." Die Erzählungen des 2016 publizierten Bandes Die Paradiesmaschine sind höchst originell bis schräg, sie lassen die Grenzen zwischen dem Vertrautem und dem Fremden verschwimmen. Und die Stacheln der Geschichte sitzen überall. "Das Schreiben ist mein Ariadnefaden, an ihm führe ich mich entlang", erklärt Lydia Mischkulnig.

Prosaischer, wissenschaftlich geht es bei Anton Pelinka zur Sache. Unsereinem scheint es, als habe er die Politologie im ORF eingeführt. Er ist an der Universität Innsbruck emeritierter Professor, war bis vor kurzem an der Central European University in Budapest, war vielerorts Gastprofessor, etwa in Stanford, und der österreichische Vertreter in der europäischen Kommission gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. In unzähligen Medien kann man ihn hören und lesen, oftmals wurde er wegen seiner Worte von der FPÖ attackiert. Zwei der Schwerpunkte von Pelinkas umfangreichem Werk sind Demokratietheorie und das politische System Österreichs.

Oft über die Grenzen der uns bekannten Realität hinaus führt die Literatur von Heinrich Steinfest. Der in Australien geborene Wiener lebt in Stuttgart - schon dies klingt wenig konformistisch. So legt er auch seine Werke an. In den feinen Krimis finden wir einen Chefinspektor, der Wittgenstein liest, oder den einarmigen Wiener Detektiv Markus Cheng, dessen Eltern aus China zugezogen waren (übrigens: ein neuer Cheng-Roman erscheint im Frühjahr 2019!). 2014 kam der große Roman Der Allesforscher heraus, im charakteristischen Steinfest-Ton beginnt er mit einem skurrilen Paukenschlag des Schicksals; in die packende Geschichte verwebt er Gesellschaftsanalyse und Kunstmotive. Noch schräger erscheint Das Leben und Sterben der Flugzeuge (2016); und im März 2018 legte Heinrich Steinfest den Roman Die Büglerin vor, in dem eine Frau ihr Leben im wohlhabenden Ambiente aufgibt, weil sie meint, ihrer wesentlichen Verpflichtung nicht nachgekommen zu sein. Hinter all dem steckt die Frage, ob nicht die Welt anders sei, als wir glauben.

Die zwei verschiedenen Zugänge im Band 100 x Österreich - literarisch und wissenschaftlich - kommen gleich auf dem Transflair-Podium zum Ausdruck.

Die Sprachkunst lebt im Möglichkeitssinn, also: Was wäre oder was ist denn an Österreich anders, als wir glauben? Darauf sagt Heinrich Steinfest, die Literatur sei eben die Möglichkeit, die Realität auszutauschen. "Wenn die Realität eine Torte ist, dann nimmt sich Literatur ein Stück heraus, sie verändert es und schiebt es als ganz andere Masse zurück. Und erstaunlicherweise passt es." Er schaue ins Phantastische, verkehre die Dinge, suche das Skurrile herauszuarbeiten. Allerdings sei manchmal die Realität in ihrer Skurrilität nicht zu übertreffen (dafür ein Beleg: der Beitrag "Eurofighter" von Florian Scheuba in 100 x Österreich). Kommentar von Lydia Mischkulnig: "ok" - auf Seiten der Literatur ist man sich einig.

Dagegen sagt Anton Pelinka, in dieser Frage sei er zunächst einmal sehr vorsichtig. "Nicht weil ich das grundsätzlich der Literatur nicht zutraute, aber weil die Sozialwissenschaften genügend Schwierigkeiten haben zu erkennen und sich zu einigen, was Realität ist. Sie neigen dazu, die Wahrheit zu suchen - dafür ist die theologische Fakultät zuständig." Und er warnt: Wahrheit sei immer der Vorwand gewesen, der Wirklichkeit Gewalt anzutun. Was im Buch 100 x Österreich versucht werde, dass nämlich Literatur und Sozialwissenschaften gemeinsam der Realität auf die Spur kommen wollen, sehe er als interessantes Bündnis. Die Frage sei freilich, wer die Indikatoren bestimme und die Technik, um der Wirklichkeit nahezukommen. Die Übertreibung hält Pelinka in dieser Hinsicht mitunter für problematisch, etwa in Thomas Bernhards Stück Heldenplatz, das gerade den Bundeskanzler, unter dessen Regierung am meisten geschehen ist, um die NS-Vergangenheit zum Thema zu machen, in polemischer Verzerrung treffe.

2076 im Burgtheater

Die Bilder müssen stimmen, sagt Steinfest und verweist auf Peter Turrinis Beitrag "Burgtheater" in 100 x Österreich. Der sieht am Ende für das Jahr 2076 vor, dass die gesamte Regierung und alle Institutionen im Burgtheater fungieren: Die Theatralisierung Österreichs hat einen Abschluss gefunden.

Sie sehe das anders, sagt Lydia Mischkulnig: Ein Beweis, dass Wirklichkeit nicht ist, sondern entsteht. "Das Stück Heldenplatz hat eine Bühne aufgebaut, auf der die Akteure ihre Verzerrung zur Schau getragen haben" - vielleicht mit kathartischem Effekt, als sei das Theater doch eine Lehranstalt. In der Literatur geschehe konkret in der Tat etwas Verrücktes: "Man sitzt vor einem Blatt Papier, starrt in dieses Weiß, eine Idee kommt von irgendwoher, verfestigt sich zu einem Gedanken, der zieht einen tiefer hinein - und plötzlich hat man ein kleines Chaos zusammengedacht; man setzt sich dran, um eine mögliche Ordnung zu schaffen." So entstehe eine Wirklichkeit, der Text und das Buch seien dann wirklich da.

Dieser Band 100 x Österreich sei nun publiziert (darin der Essay "Heldenplatz" des Historikers Peter Stachel), also wirklich, sagt Mischkulnig. Was das mit Österreich zu tun habe, hänge davon ab, was jeder Einzelne unter Österreich verstehe. Deswegen sucht der breite Band eine Bandbreite an Zugängen.

"Österreich-Generator"

Also gibt es auf dem Podium je drei Vorstellungen zu den drei Stichwörtern. Man könnte, schlägt Mischkulnig vor, jedes Jahr dieselben Stichwörter des Bandes anders verteilen und so einen "Österreich-Generator" schaffen.

Anton Pelinka würde sehr gerne über "Platzkonzert" (Mischkulnigs Beitrag) schreiben. Da rege sich bei ihm zunächst emotionaler Widerstand wie bei "Lederhosen" oder "Bierzelt"; gleichzeitig reflektiere er, das sei ein bisschen ungerecht, denn er weiche ja den Platzkonzerten eher aus: "Ich würde darüber schreiben, dass ich davon nicht verstehe. Aber: Warum will ich nichts verstehen? Weil ich Platzkonzerte mit einer gewissen Form von Verbiesterung gleichsetze. Das ist sicher ungerecht, aber wahrscheinlich nicht ganz unverständlich." Aber ja, sagt Heinrich Steinfest, Aversion sei ein legitimes Mittel, sich einem Thema anzunähern. Er selbst habe "sicher eine perverse Lust, mich in solche Veranstaltungen wie ein Platzkonzert zu begeben".

Und schon hätten wir auf dem Transflair-Podium einen ersten Beitrag fürs nächste Jahr. Hier und jetzt allerdings liest Lydia Mischkulnig ihren tatsächlich wirklichen Essay "Platzkonzert". Mehrmals verortet er es "dörflich", auch im Gegensatz zum Konzertsaal der gehobenen Bürgerlichkeit. Ja, sagt Anton Pelinka, hier werde tendenziell auch Provinz gegen Wien gespielt. Er sehe Tiroler Schützenkapellen vor sich, die keineswegs urban seien.
Der Wechsel von Literatur und Wissenschaft ist eben das Schöne an diesem Buch.
Schwieriger gestaltet sich die Frage anderer Möglichkeiten für das Stichwort "Konkordanzdemokratie" - als Kontrapunkt zur Konkurrenzdemokratie. Pelinkas sachlichen Zugang, sagt Heinrich Steinfest, vermöge er nicht zu entwickeln; aber der Wechsel von Literatur und Wissenschaft sei eben das Schöne an diesem Buch. Lydia Mischkulnig interessieren eher die Widersprüche und weniger die Konkordanz, wohl jedoch deren Dynamik. Wie immer in der Literatur würde sie eine Geschichte erzählen: "Es gibt ein Auto; einer hat den Führerschein und der Beifahrer weiß den Weg." Oder die Ehe als Konkordanzdemokratie? Daran sei was dran, denn der Begriff setzt voraus, dass die Akteure ungefähr im Gleichgewicht sind, sagt Pelinka, bevor er seinen Beitrag liest. An seinem Ende steht das "Lernen aus der Geschichte".

Und Konkordanz heute? Lydia Mischkulnig meint, in der aktuellen Situation tendiere die Demokratie ins Illiberale - doch vielleicht schaffe das ja eine geschärfte Wachsamkeit. Derartiges hat Heinrich Steinfest in Stuttgart erlebt, er war einer der Aktivisten im Kampf gegen den gigantischen Bahnhofsbau. Er gibt zu bedenken, dass Konkordanz die in einer politischen Landschaft nötige Konkurrenz vergesse.

Wesentliches hinter verschlossenen Türen

Dazu hat Anton Pelinka schon 1985 ein entsprechendes Buch mit dem Titel Windstille veröffentlicht. Natürlich, sagt er nun, müsse beides sein, Konflikt und Konsens. In seinen fundierten, eindringlichen Ausführungen zur heutigen Situation sagt er: "Die FPÖ war die Partei, die sich in der Konkordanzdemokratie nicht gefunden hat." Man dürfe auch nicht vergessen, diese Form der Demokratie habe schon etwas Illiberales an sich, indem man Wesentliches hinter verschlossenen Türen aushandle.

Zum Schluss wird es sozial-kulinarisch. Der Würstelstand ist eindeutig ein urbanes Phänomen, sind sich alle einig. Er stelle es sich aber herrlich vor, sagt Heinrich Steinfest, dass er auf einen Berg wandere und auf dem Gipfel einen Würstelstand vorfinde. Dann liest er seine doch urbane, wunderlich schöne Geschichte, wie spätnachts ein Kleinflugzeug auf dem Wiener Gürtel landet und zum Würstelstand rollt.

Die 65. Folge von Transflair endet mit dem Wort der Literatur und der Metapher des Würstelstands als ganze Welt. 100 x Österreich führt weit - oder: hoch - über Österreich hinaus. Transflair ohnehin.