Im Gespräch
Volle Boote
22. 1. 2016 / Von Klaus Zeyringer
Über Flucht und Furcht, Krise und Elend, Reportage und Roman. Sherko Fatah und Mathilde Schwabeneder bei Transflair.

Krieg, Elend, Flucht, Tote im Mittelmeer, Menschenschlangen unter unmenschlichen Bedingungen - das sind Bilder, die unseren Medienalltag dominieren. 'Willkommenskultur', 'Obergrenze', 'Festung Europa' gehören zum hiesigen Intensivwortschatz. Städtenamen wie Köln erhalten eine weitere Bedeutung, Topographien wie Lampedusa tauchen auf. Gegen völlig überfüllte Boote meinen manche unser Boot sei voll.

Eurokrise, Griechenlandkrise, Flüchtlingskrise. Entsprechend fragt der Titel im Programmheft zu dieser 54. Folge der Serie Transflair: Wir haben die Krise, was haben die Anderen? Und antwortet: Meist nur noch das Leben.

Der Orient, das Mittelmeer, der Okzident und die wesentlichen Fragen nach den Ursachen, den Zuständen, den Aussichten finden sich auf dem Literaturhaus-Podium von zwei Seiten betrachtet, von einem Romancier und einer Journalistin.

Gotteskrieger will neues Leben

Sherko Fatah erzählt von Deutschland und vom Nahen Osten, vom Irak, von einer wilden, wirren, offenbar gesetzlosen Weltgegend und davon, dass jeder Mensch eine Vorgeschichte hat, die ihn einholt. Er ist in Ost-Berlin geboren und in der DDR aufgewachsen; sein Vater war ein irakischer Kurde, 1975 ist die Familie über Wien nach West-Berlin gegangen, wo Sherko Fatah studiert hat. Sein Roman Das dunkle Schiff stand 2008 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. In 'asketischem Realismus' handelt er unpathetisch vom irakischen Kurden Kerim, der mit den islamistischen Gotteskriegern gekämpft hat, sich von der Gewalt lossagt, nach Europa will, Schiffbruch erleidet und dann versucht, in Deutschland ein neues Leben aufzubauen. 2011 erschien Ein weißes Land, der Lebensbericht eines Irakers, vom Bagdad der dreißiger Jahre zum Zweiten Weltkrieg, von der faschistischen Jugendorganisation bis in die SS.

2015 erhielt Sherko Fatah den Großen Kunstpreis Berlin sowie den Albert-von-Chamisso-Preis zugesprochen, legte er den Roman Der letzte Ort vor: Albert, ein deutscher 'Aussteiger' flieht vor seiner Lebensgeschichte aus Europa in den Irak, dort wird er mit seinem Übersetzer Osama entführt, eingesperrt, von Ort zu Ort geschleppt. In der engen Ausweglosigkeit erzählen sich beide ihre Geschichte, zwischen ihnen liegt meist ein kulturelles Unverständnis. So schafft Sherko Fatah einen packenden Roman aus zwei Perspektiven, von A (Albert) bis O (Osama). Er habe lange darüber nachgedacht, ob er seine Figur Osama nennen solle, sagt er. Letztlich habe er diesen 'aufgeladenen' Namen verwendet, weil er im Arabischen völlig üblich sei. "Wenn da eine Irritation entsteht - und das war auch im Lektorat so -, dann muss man das als beabsichtigten Denkanstoß nehmen."

Vom Einwandererkind zum Papst

Zur Fiktion greift Mathilde Schwabeneder nicht, die Realität reicht. Mit Karim El-Gawhary, dem Leiter des ORF-Nahostbüros in Kairo, hat sie Auf der Flucht. Reportagen von beiden Seiten des Mittelmeers geschrieben. Sie waren auf dieses Projekt gekommen, nachdem sie bei einem gemeinsamen Auftritt über 'mein Kairo' und 'mein Rom' zu reden gehabt hätten, jedoch über Flüchtlinge gesprochen hatten. Mathilde Schwabeneder lebt seit langem in Rom, dort hat sie ihr Doktorat gemacht, dort hat sie für Radio Vatikan gearbeitet. 1995 kam sie zu Ö1, vier Jahre später zum ORF-Fernsehen, dessen Außenstelle in Rom sie leitet. "Man muss sich den Dingen aussetzen", erklärt sie - und das hat sie im Extremen mit einer Reportage aus der Bürgerkriegsregion im Südsudan gemacht. 2014 erschien ihr Buch Die Stunde der Patinnen. Frauen an der Spitze der Mafia Clans; mit Esther-Marie Merz, der Südamerika-Korrespondentin des ORF, publizierte sie Franziskus. Vom Einwandererkind zum Papst.

Mit Papst Franziskus war sie auf Lampedusa, aber mit der Frage der Flüchtlinge hatte sie sich schon lange zuvor beschäftigt. Auf der Flucht konstatiert die schreckliche Tatsache, dass weltweit gegenwärtig sechzig Millionen Menschen auf der Flucht sind. Dazu bringt Karim El-Gawhary Gesichter aus Nahost, aus den Flüchtlingslagern näher: Bestürzende Geschichten, entsetzliche Schicksale. Und Mathilde Schwabeneder schildert die andere Seite des Mittelmeeres, die mafiösen Schlepperbanden und die Katastrophen auf hoher See, für viele ein feuchtes Grab, für andere die Rettung auf Lampedusa. Und was weiter? Nach all dem Furchtbaren am Ende des Buches ein Kapitel über einen hilfreichen österreichischen Ort...

In der aktuellen Flüchtlingsdiskussion, schreibt El-Gawhary, werden "von manchen so zynische, manchmal offen rassistische, oft auch einfach nur von Angst getragene Töne angeschlagen". Die neuesten Umfragen in Deutschland und Österreich zeigen, dass zwei Drittel der Bevölkerung meinen: "Wir schaffen das nicht."

Man sei an einem Punkt der Ernüchterung angelangt, sagt Sherko Fatah. Anfangs habe die Emotionalisierung viel Hilfsbereitschaft ausgelöst, nun jedoch überwiege der Zweifel. Er fürchte immer ein wenig den Kern von Irrationalismus, der sich in beiden Verhaltensweisen, in die eine oder dann in die andere Richtung äußere. Was nun kommen werde, sei unvorhersehbar. Als Autor beobachte er, wie sich die Sprache ändere, wie etwas aussprechbar wird, das vor kurzem noch tabu war: "Es ist ein feines sprachliches Beben spürbar, das immer einem anderen Beben vorausgeht." Das Wort "Obergrenze" sei schon ein politisches Statement.

In Italien kippt die Stimmung nicht

In Italien, sagt Mathilde Schwabeneder, habe sie das Problem seit einiger Zeit beobachtet, denn das Land sei lange mit der Flüchtlingsfrage alleingelassen worden: "Einen ersten Höhepunkt gab es 2011 mit dem sogenannten Arabischen Frühling, da wurde die kleine Insel Lampedusa regelrecht gestürmt. Und in diesem Fall stimmt auch der Ausdruck. Dort leben wenige tausend Menschen, binnen kurzem kamen zehntausend - während heute in unseren Ländern von einer Quote von ein bis zwei Prozent gesprochen wird." Grosso modo habe Italien, nicht zuletzt mit der Aktion 'Mare nostrum', eine gute Arbeit geleistet. Inzwischen habe die Westbalkan-Route Druck von Italien genommen, dennoch sind 2015 immer noch 150.000 Menschen über das Meer gekommen. Anders als es Sherko Fatah in Deutschland beobachte, sehe sie in Italien die Meinung der Bevölkerung nicht kippen.

"Wie schaffen die das auf Lampedusa?", kann man fragen. Oder wie Karim El-Gawhary über die kurdischen Gebiete im Nordirak schreibt, wo die Bevölkerung "in nur zwölf Monaten um fast ein Drittel gewachsen" sei und sich die Armut verdoppelt habe. Als er das letzte Mal dort war, sagt Sherko Fatah, habe er eigentlich ein ziemlich gelungenes Umgehen mit diesen Flüchtlingsfluten gesehen. Das Problem sei vielmehr die Reduktion oder gar die Aussetzung der internationalen Zahlungen gewesen: "Das macht einen sprachlos. Wie konnte man, obwohl sich das jahrelang anbahnte, einen solch politisch kurzsichtigen Fehler machen! Wenn man eine Flüchtlingsbewegung auslösen will, dann tut man das genau so."

Auch in Afrika, fügt Mathilde Schwabeneder hinzu, und für die Folge von 'Mare Nostrum' seien die Mittel gekürzt worden. Man habe die Priorität geändert. Es hieß nicht mehr, "wir müssen Menschenleben retten", sondern "wir müssen die Außengrenzen schützen". Die Politik hinke immer hinterher, die nächste große Katastrophe werde gerade wieder übersehen: In Libyen braue sich ganz Tragisches zusammen.

Verrecken umschwirrt von Fliegen

Unsere Seite des Mittelmeeres meinen wir zu kennen. Seine nahöstliche Seite können wir zum Teil in der Fiktion, in den Romane von Sherko Fatah erfahren. Auf dem Podium liest er den Anfang von Der letzte Ort, erste Momente einer Entführung und einer Gefangenschaft: "Ich werde in einem Stall verrecken inmitten von Bauern und Kameltreibern, umschwirrt von Fliegen und mit dieser herrschsüchtigen Sonne über mir, deren Strahlung ein Gewicht zu haben scheint, unter dem das Holz des Schuppens ächzt." Es geht um Hilfe und Freundschaft, Verlorenheit und Verrat, es geht schlicht ums Überleben.

Es ist eine literarische Fiktion über Realitäten. Bei Mathilde Schwabeneder und Karim El-Gawhary steht die Kapitelüberschrift: "Ein Buch kann man weglegen, die Realität nicht." Der Roman vermöge mehr in die Tiefe zu gehen, sagt Mathilde Schwabeneder. Sie selbst ziehe als ihr eigenes Mittel die Reportage vor, sie liebe den Kontakt mit Menschen, möchte gerne von ihnen etwas erfahren, um zum besseren Verständnis von Situationen beizutragen.

Eine Reportage, sagt Sherko Fatah, wirke viel direkter. Ein Roman könne mehr mit Geschichte, mit Erinnerungen arbeiten. Seine Bücher spielen an der Grenze der Kulturen, und da sei es ihm wichtig, dass die allzu flachen Bilder, die wir von 'dem Anderen' haben, mehr Plastizität erhalten, "angefüttert werden". In Der letzte Ort handelt es sich eben um komplexe Figuren. So antwortet Osama im ersten Teil des Romans auf die Frage, woher der Hass komme: "nach der Kindheit, wenn die Leute anfangen zu denken", denn "sie haben dann Überzeugungen". 170 Seiten später, im letzten Teil, sagt er zu Albert: "Du verstehst nicht. Das wird alles von draußen hereingetragen."

Was wäre wenn

Wie wichtig es ist, die Hintergründe der Schicksale zu kennen, um die Ausweglosigkeit zu begreifen, betont Mathilde Schwabeneder. Dabei komme sie oft und oft an die eigenen Grenzen. "Ich denke mir immer: Was wäre, wenn das meiner Familie passieren würde." Das Buch solle eben nicht Zahlen oder Parolen vermitteln, sondern Bilder, wer denn konkret diese Menschen auf der Flucht seien. Exemplarisch zeigt es einige Schicksale. Die Reporterin erzählt von den Rettern, ein derartiges Lampedusa-Kapitel liest sie auf dem Podium: von Constantino Baratta, der verzweifelt ist, weil er unter Lebensgefahr nicht "viel mehr Menschen" aus dem Meer gezogen hatte.
Europa vermag noch mehr Menschen aufzunehmen, ein Prozent von 500 Millionen sind 5 Millionen, "davon sind wir noch weit entfernt. Humanitäre Visa kann jeder Staat ausstellen."
Nein, sagt sie schließlich, Europa vermöge noch mehr Menschen aufzunehmen, ein Prozent von 500 Millionen sind 5 Millionen, "davon sind wir noch weit entfernt. Humanitäre Visa kann jeder Staat ausstellen". Am Ende wünscht sie sich, "es müssen global alle mehr zusammenarbeiten."
Nein, dieses Boot ist nicht voll.

Die positive Note am Ende dieses Abends sind die beiden Bücher: Es kann Literatur sehr dichte Einblicke in Situationen und Charaktere geben, somit Gründe und Hintergründe näherbringen; es können Reportagen, wenn auch sehr schmerzhaft, erzählen, was passiert.

Sherko Fatah, Der letzte Ort. Roman. Luchterhand, München 2014. 286 Seiten / 20,60 €
Karim El-Gawhary, Mathilde Schwabeneder, Auf der Flucht. Reportagen von beiden Seiten des Mittelmeers. Kremayr & Scheriau, Wien 2015. 190 Seiten / 22 €
Sherko Fatah und Mathilde Schwabeneder im Jänner 2016 im Literaturhaus NÖ
Klaus Zeyringer. Professor für Germanistik an der Université Catholique de L'Ouest in Angers (F), Literaturkritiker; Bücher zuletzt: Eine Literaturgeschichte: Österreich seit 1650 (mit Helmut Gollner), Studienverlag 2012; Fußball. Eine Kulturgeschichte, S. Fischer 2014.